Die Verschleierung hat nichts mit Religion zu tun

Kommentar von Julia Onken, Publizistin, Buchautorin und Dozentin; www.julia-onken.ch

Inzwischen pfeifen es die Spatzen von den Dächern: die Verschleierung der Frau, weder Burka, Niqab noch Kopftuch, so lehren es uns Wissenschaftler und Wissenschafterinnen des Islam, hat nichts mit Religion zu tun, sondern mit ausgeklügelter und spitzfindiger Auslegung einiger Textstellen im Koran. Lange genug haben wir uns mit dem Wort der Religionsfreiheit in eine völlig falsche Denkrichtung treiben lassen, vor allem die Classe politique betete in fahrlässiger Weise nach, was als Glaubensvorlage verkauft worden ist, ohne sich selbst gründlich darüber zu informieren und nachzudenken.

Nun aber ist Schluss damit und es wird höchste Zeit, auch im Sinne der vielen Menschen die sich auf den Weg nach Europa aufgemacht haben, für klare Verhältnisse zu sorgen und klipp und klar die Dinge beim Namen zu nennen. Die Verschleierung der Frau ist ein politisches Signal: dahinter verbirgt sich ein Menschenbild, der die Geschlechterverhältnisse von Mann und Frau hierarchisch straff und wenn nötig mit Gewalt regelt. Der Mann steht über der Frau, der Erhalt seiner Machtbefugnis und seines Wohles gilt als oberstes Gesetz. Da innerhalb eines solchen Regelwerkes alles, was dazu führen könnte, ihn aus seinem Hoheitsanrecht herauszukipppen, sind sämtliche möglichen Reizauslöser zu eliminieren. Dieser Anspruch impliziert, dass jeder Mann beim Anblick einer Frau grundsätzlich in ein unkontrollierbares sexuelles Begehren verfällt, und um ihn einer solchen Beunruhigung nicht auszusetzen, muss das Objekt der Begierde verhüllt werden. Das bedeutet, dass die Frau ihren Körper verhüllt und neckische Haarbüschel unter einem Kopftuch versteckt. In einer Liebes-Beziehung bestimmt der Mann uneingeschränkt über seine Frau, verwaltet und herrscht über ihre Fortpflanzungsorgane. Ihr Anblick steht nur ihm allein zu, kein anderer Mann darf ihrer angesichtig werden, damit sein Besitz von unbefugtem visuellen Zugriff geschützt ist.

Nicht alle Frauen empfinden aus ihrem subjektiven Erleben die Verschleierung als Freiheitsberaubung, als Isolation, als Einschränkung der Bewegungsfreiheit und als einen schweren Eingriff in ihr Grundrecht, frei zu leben. Nein, besonders eifrige Konvertinnen neigen dazu, das Tragen eines Kopftuches als eine spezielle Freiheit zu geniessen, um so nicht dem Blick fremder Männer ausgeliefert zu sein.

Hier prallen zwei völlig entgegengesetzte Menschenbilder aufeinander. Wir leben im mitteleuropäischen Kulturraum in einer Gesellschaft, die sich nach einem anderen Menschenbild ausrichtet: Der Mensch ist nicht machtlos seinen Trieben ausgeliefert, sondern er ist in der Lage sich seines Verstandes zu bedienen und Regungen, welcher Art sie auch immer sind, umweltverträglich zu kanalisieren. Die finsteren Verhältnisse, die Vergewaltigung als Kavalliersdelikt und in der Ehe als nicht strafwürdig qualifizierte, sind endgültig vorbei. Frauen, und mit ihnen auch einige Männer, haben Menschenrechte als Frauenrechte erstritten und erkämpft und damit die Statik der Gleichberechtigung von Mann und Frau als unverhandelbares Gesetz und ethischen Wert in unserer Gesellschaft eingeführt. Auch der Mann hat sich längst vom verdächtigen Terrain verabschiedet, als ständiges Gefahrenpotential herum zu geistern, der gewaltsam über jede Frau herfällt.

Nicht nur die total verschleierte sondern gleichermassen kopftuchtragende Frau ist eine Provokation und torpediert unser Menschenbild. Zudem ist es für jeden Mann eine Beleidigung, da er sich dem Verdacht ausgesetzt sieht, beim Anblick eines weiblichen Wesens in einen hormonellen Notstand zu geraten, der sämtliche Hirnzellen ausser Betrieb setzt und er sich wie ein wildes Tier über die Beute hermacht.

Wer daran ernsthaft interessiert ist, Integration nicht nur als rethorische Wortspielerei zu zelebrieren, muss bereit sein, mit Nachdruck ein Menschenbild zu vertreten, das den Grundwerten einer aufgeklären Gesellschaft Rechnung trägt.