Freiheit, Gleichberechtigung, Rechtliches

Nein zum indirekten Gegenvorschlag

National- und Ständerat haben einen indirekten Gegenvorschlag verabschiedet, den sie der Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» gegenüberstellen. Dieser indirekte Gegenvorschlag[1] tritt automatisch in Kraft, wenn die Initiative am 7. März 2021 abgelehnt wird. Aus Sicht des Initiativkomitees ist er das Papier nicht wert, auf dem er gedruckt ist. Das neue Bundesgesetz über die Gesichtsverhüllung ist ein leicht durchschaubarer Versuch, der Initiative das Wasser abzugraben.

Die Anliegen der Verhüllungsverbots-Initiative nimmt der indirekte Gegenvorschlag nicht auf. Vielmehr stellt ihr dieser ein undurchdachtes Aktionspaket gegenüber, das auf der Basis von Schlagworten und wenig konkreten Zielbestimmungen noch mehr Bundesgelder mit der Giesskanne verteilen soll. Zu denken, man könne erzwungene Gesichtsverhüllung und Frauenunterdrückung verhindern, indem man noch mehr Mittel für Integrationsprogramme, Entwicklungshilfe und Gleichstellungspolitik bereitstellt, zielt an der Lösung vorbei.

Es muss ganz klar so benannt werden: Das Instrument des indirekten Gegenvorschlags für Geldverteilungs- und Staatsausbau-Programme zu missbrauchen, die nichts mit den Zielen der Initiative zu tun haben, ist ordnungspolitisch höchst bedenklich und an Dreistheit nur schwer zu überbieten.

Neues Alibi-Bundesgesetz

Verbunden mit anderen Gesetzesanpassungen hat das Parlament im Rahmen des indirekten Gegenvorschlags ein neues «Bundesgesetz über die Gesichtsverhüllung» verabschiedet (siehe Seite 26). Auch dieses tritt automatisch in Kraft, sollte die Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» an der Urne scheitern.

Aus Sicht des Egerkinger Komitees liegen diesem Gesetz zahlreiche argumentative Widersprüche zugrunde. In seinen Erläuterungen zum Gesetz anerkennt der Bundesrat zwar, dass Gesichts- und Ganzkörperverhüllungen im öffentlichen Raum «Probleme mit sich bringen können». Weshalb er nun aber die Pflicht, das Gesicht zu zeigen, bloss auf den Kontakt mit Behörden sowie den Flug- und öffentlichen Verkehr beschränken will, ist nicht nachvollziehbar. Die «Pflicht zur Enthüllung» derart einseitig einzugrenzen ist ein Schlag ins Gesicht aller privaten Unternehmen (z.B. Gastronomiebetriebe, Versicherungen, Kaufhäuser oder Sportvereine), denen der Bundesrat offenbar zumutet, die Präsenz komplett verhüllter Personen fraglos zu akzeptieren.

Wer den Standpunkt vertritt, es gehöre zum Charakter einer freien Gesellschaft, seine Meinung in der Öffentlichkeit frei und unverhüllt zu äussern, beschränkt diesen Wert nicht auf einige wenige, spezifisch festgelegte Räume.

Auch die vorgeschobene Begründung, man ziehe eine föderalistische Lösung vor und überlasse es den Kantonen, ob und welche Verbote sie einführen wollen, greift in diesem Fall nicht. Wir stimmen zwar zu, dass die föderalistische Staatsstruktur der Schweiz zu achten und zu schützen ist. Dem Subsidiaritätsprinzip ist Rechnung zu tragen. Die Argumentation des Bundesrats ist allerdings widersprüchlich. Das neue Bundesgesetz über das Gesichtsverhüllungsverbot enthält sehr wohl ebenso Vorschriften, die in die Kompetenzen der Kantone eingreifen: so die Bestimmungen, die den Kontakt mit den Behörden regeln sollen. Eine konsequente Haltung wäre demgegenüber gewesen, gar nicht erst einen Gegenentwurf zu formulieren.

Aus ordnungspolitischer Perspektive gibt es keinen Grund, ein landesweit gültiges Verhüllungsverbot abzulehnen. Die Schweizerische Bundesverfassung sieht unter Berücksichtigung der Subsidiarität seit ihrem Inkrafttreten zahlreiche Themenfelder vor, in denen nationale Verfassungs- und Gesetzesbestimmungen Sinn machen. So gelten die verfassungsmässig verbrieften Grundrechte und Staatsbürger-Pflichten schliesslich auch für die ganze Schweiz. In diesen Kontext gehört aus unserer Sicht klar auch die Frage, welche Regeln für das friedliche Zusammenleben in der Öffentlichkeit gelten sollen. Diese elementaren Werte einem kantonalen «Flickenteppich» zu überlassen, halten wir für falsch.

26 verschiedene kantonale Verhüllungsverbots-Lösungen machen ordnungspolitisch keinen Sinn und können nicht im Interesse der Kantone sein. Sie sind weder im Sinne der hier lebenden Bevölkerung noch akzeptabel für unser Land bereisende Touristinnen und Touristen. Die Widersinnigkeit eines «Flickenteppichs» unterschiedlichster Vorgaben sei anhand eines konkreten, realitätsnahen Praxis-Beispiels erläutert:

Man stelle sich vor, eine Touristengruppe aus den Golfstaaten (wo sich viele Frauen verhüllen müssen) fährt mit dem Zug vom Flughafen Zürich über die Zentralschweiz ins Tessin. In Zürich dürften die Frauen verschleiert einsteigen, in Luzern müssten sie sich des Schleiers entledigen, auf Urner Boden dürften sie ihn wieder anziehen, bevor er im Tessin endgültig abzuziehen wäre. Zum Vergleich: Das wäre, wie wenn für Autofahrer auf der Autobahn bei einem unsichtbaren Kantonsübertritt automatisch das Tempolimit ändert – ohne dass dies vorgängig angezeigt worden wäre.

Untaugliche Integrations-Instrumente

Art. 58 (Finanzielle Beiträge) des Ausländer- und Integrationsgesetzes soll dadurch ergänzt werden, dass vom Bund finanzierte Integrationsprogramme und Projekte nicht mehr bloss «der Förderung der Integration von Ausländerinnen und Ausländer» dienen. Es müsse präzisiert werden, dass diese Ausländer-Förderprogramme neuerdings «den besonderen Anliegen von Frauen, Kindern und Jugendlichen Rechnung zu tragen» hätten. Diese Gesetzesänderung kommt einem Eingeständnis gleich, dass ausländische Frauen – jedenfalls, solange sie aus gewissen Kulturkreisen stammen – offenbar nicht gleichberechtigt behandelt werden und deshalb speziell unterstützungswürdig sind. Wer geht ernsthaft davon aus, dass diese Formulierungsanpassungen und mehr Geld für die Sozialindustrie – ohne verbindliche Integrationsvereinbarungen – die Integration verbessern?

Keine Massnahmen gegen häusliche Gewalt

Dass die Beziehungslagen in vielen Familien «aus fernen Kulturen» in der Tat prekär sind und Frauen innerhalb dieser Familien oftmals nicht wie gleichberechtigte Menschen behandelt werden, beweist zum Beispiel die Tatsache, dass der Ausländeranteil bei polizeilich registrierter häuslicher Gewalt – grösstenteils sind Männer die Täter – überdurchschnittlich hoch ist. Knapp 20’000 Straftaten im Bereich der häuslichen Gewalt wurden im Jahr 2019 polizeilich registriert, die Dunkelziffer dürfte noch weiter höher liegen. Wieso klammern Befürworter des indirekten Gegenvorschlags Massnahmen gegen diese längst belegten Missstände aus, wenn sie doch die Absicht verfolgen, die Integration ausländischer Frauen zu verbessern?

Fehlende Verbindlichkeit und Sanktionen

Weshalb werden im indirekten Gegenvorschlag gegenüber Migranten keine verbindlichen Integrationsvereinbarungen vorgeschrieben, welche die nicht gleichberechtigte Behandlung von Frauen unter Strafe stellen und mit Landesverweis bestrafen? Dies wäre ein wirksames und angebrachtes Integrations-Instrument – auch wenn Anpassungen des Ausländer- und Integrationsgesetzes keinen direkten Zusammenhang mit der Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» aufweisen und deshalb fragwürdig sind.

Die Initiative betrifft nicht nur Ausländer, sondern alle sich in der Schweiz aufhaltenden Menschen gleichermassen. So klammert der Gegenvorschlag die Anwendung in Bezug auf radikal-islamistische Konvertitinnen mit Schweizer Herkunft weitgehend aus. Es ist längst bekannt, dass unserer abendländischen Kultur zuwiderlaufende Moral- und Rechtsvorstellungen in den letzten Jahren bei tausenden Schweizer Konvertitinnen und Konvertiten wachsende Verbreitung gefunden haben. Die verstorbene Nora Illi, eine Schweizerin mit fundamentalistischen Ansichten, war wie schon erwähnt die bekannteste Niqab-Trägerin der Schweiz.

Wie wird Zuwiderhandlung sanktioniert?

Der Gegenvorschlag knüpft oberflächlich am Gleichberechtigung bezweckenden Ansatz der Verhüllungsverbots-Initiative an. Was aber nützen vage definierte «finanzielle Beiträge» an irgendwelche «Integrationsprogramme» den unterdrückten Frauen, wenn erzwungene oder unter massivem familiärem oder religiösem Druck erwirkte Verhüllung nicht verboten wird? Unverbindliche Förderprogramme, seien sie noch so gut gemeint, nützen nichts, wenn daraus bei verweigerter Teilnahme keine Sanktionen erfolgen und die Einhaltung festgelegter Integrationsvereinbarungen gegenüber Migranten nicht kontrolliert wird. Nur verbindliche Gesetze, welche die Frauen beispielsweise vor erzwungener Gesichtsverhüllung schützen und Zuwiderhandlungen – welche die Männer treffen! – unter Strafe stellen, entfalten eine nachhaltige Wirkung.

Fragwürdige Vermischung mit «Gleichstellungspolitik»

Nebst kosmetischen Alibi-Anpassungen des Ausländerrechts, welche zweifellos nicht wenigen Staatsangestellten ein gern gesehenes Betätigungsfeld schaffen würden, bezweckt der Gegenentwurf auch, den Geltungsbereich des Gleichstellungsgesetzes auszudehnen. Art. 14 (Förderprogramme), Absatz 1 soll um folgenden Satz ergänzt werden: «Der Bund kann öffentlichen oder privaten Institutionen, die Programme zur Förderung der Gleichstellung von Frau und Mann durchführen, Finanzhilfen gewähren.» Auf neue Einnahmequellen spekulierend, dürfte sich die Sozialindustrie bereits genüsslich die Hände reiben.

Art. 14, Absatz 2 soll um lit. e. erweitert werden: «Die Programme können dazu dienen: (…) e. die Gleichstellung von Frau und Mann in der Gesellschaft zu verbessern» (neu). Welche Bedingungen solche Programme erfüllen müssen, um vom Staat alimentiert zu werden, wird wohl in irgendwelchen Verwaltungspapieren niedergeschrieben sein. Mit Spannung wäre zu beobachten, ob der Bund dann auch Aufklärungskampagnen unterstützen würde, welche das Tragen von Burka und Niqab als frauenfeindlich kritisieren würden oder ob es nicht viel eher bei schön klingenden Worthülsen bleiben würde, welche das wahre Problem – die mit gelebter Gleichberechtigung kontrastierende Ideologie des politischen Islams – ausklammern.

Radikal-islamistisch motivierte, Frauen aufoktroyierte Gesichtsverhüllung mit vagen Anpassungen des Gleichstellungsgesetzes zu bekämpfen, ist der falsche Ansatz. Diese können den verbindlich auf Verfassungsebene festgeschriebenen Forderungen der Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» in keiner Weise das Wasser reichen.

Kein Missbrauch der Entwicklungshilfe

Ebenso wenig brauchbar ist die im indirekten Gegenvorschlag enthaltene Anpassung des Bundesgesetzes über die internationale Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe. Dass «die Verbesserung der Situation der Frauen» zu einem eigenen Ziel der Entwicklungshilfe «befördert» wird (Art. 5, Abs. 2, lit. f.), ist ja schön und gut. Wir als Initianten wären allerdings schon zufrieden, wenn wir mit einem landesweiten Verhüllungsverbot die öffentliche Ordnung sowie das friedliche Zusammenleben im eigenen Land stärken und verbessern könnten. Die ganze Welt zu «retten», konnte nie der Anspruch der Initiative sein.

Das Ansinnen, mit Schweizer Steuergeldern die Situation von Frauen im Ausland verbessern zu wollen, ist staatspolitisch sehr heikel. Die politischen Dimensionen solcher Massnahmen sind nämlich nicht von der Hand zu weisen – gerade, wenn die Zahlungen an ideologisch geprägte Gleichstellungspolitik, wie sie auch hierzulande dominiert, geknüpft werden. Die Schweiz ist noch immer ein neutrales Land. Im Ausland für eine uns angemessen erscheinende Frauenpolitik zu missionieren, widerspricht dieser Neutralität.

Staatliche Entwicklungshilfe – so umstritten sie im Grundsatz ist – hat allenfalls den Zweck zu erfüllen, die Lebensbedingungen von Menschen in Krisengebieten und von starker Armut betroffenen Regionen zu verbessern. Sich an dieser Kernaufgabe orientierend, steht es völlig quer in der Landschaft, einzelne Geschlechter oder andere Attribute von Menschen gegenüber anderen stärker zu gewichten. Es kann nicht die Aufgabe eines neutralen Landes sein, finanzielle Hilfen von der Erfüllung irgendwelcher Forderungen im Bereich der Frauenpolitik abhängig zu machen. Seit wann soll sich die Schweiz anmassen, Einfluss auf andere Staaten zu nehmen, wie diese ihre Gesellschaftspolitik zu gestalten haben? Wenn beispielsweise muslimische Länder Frauen vorschreiben, in der Öffentlichkeit ein Kopftuch zu tragen oder ihr Gesicht zu verhüllen, haben wir diese Gesetzgebung zu akzeptieren. Entwicklungshilfe darf nicht den Verdacht nähren, dass finanzielle Hilfe an den Import politischer Vorstellungen geknüpft wird.

Fehlende Massnahmen gegen kriminell motivierte Verhüllung

Inakzeptabel ist darüber hinaus, dass das Anliegen der Initiative, vermummte Gewalttäter landesweit zu bestrafen, im Gegenvorschlag mit keinem Wort aufgenommen wurde. Die in der Mehrheit der Kantone bestehenden Vermummungsverbote sind in Ort und Zeit begrenzt und beziehen sich hauptsächlich auf bewilligte Demonstrationen. Es ist eine zentrale Forderung der Volksinitiative, eine landesweit einheitliche Handhabe gegen Personen zu erreichen, die ihr Gesicht verhüllen, um Gewalt und Vandalismus zu betreiben. Ein halbwegs brauchbarer Gegenvorschlag hätte dieses Anliegen fairerweise aufgenommen.

[1] Quelle: https://www.parlament.ch/centers/eparl/curia/2019/20190023/Schlussabstimmungstext%202%20SN%20D.pdf (aufgerufen am 23.11.2020)

Zum Kapitel "Kein Schaden für den Tourismus"

Weitere Schwerpunkte

Argumente

Die Gültigkeit der Initiative

Rechtliches

Gebot der Gleichstellung

Gleichberechtigung

Umsetzung der Initiative

Rechtliches

Die Initiative «Ja zum Verhüllungsverbot»

Rechtliches